Reverse Joy nimmt die Funktion des Mystizismus in der unaufhörlichen Protestbewegung im Herzen des schiitischen Glaubens für seine radikale Neubetrachtung von Geschichte und Gerechtigkeit in den Blick. Sich unter vollem Einsatz von Körper und Geist in die Geschehnisse zu stürzen, die sich vor dreizehn Jahrhunderten ereigneten; der Zusammenbruch traditioneller Auffassungen von Zeit; die Verkehrung der Rollen von Männern und Frauen; und Freude durch Trauer – das sind nur einige der Themen, die dieser Essay berührt. Dabei erfordert jedes dieser Themen ein ebenso elastisches wie robustes Verständnis des Heiligen und des Profanen, das den hitzigen politischen Debatten unserer Tage oftmals schmerzlich abgeht.
Der Begriff der „Triangulation“, der durch einige Jahrzehnte eines falschen neoliberalen Pathos ramponiert und geschunden worden ist, bedarf dringend einer Entgiftungskur, einer Art etymologischen Einlaufs. Seine trigonometrische Definition liefert uns „ein Verfahren, um die relativen Positionen von über ein Gelände verteilten Punkten ausgehend von bekannten Punkten an den beiden Enden einer festgelegten Basislinie zu ermitteln, statt die Entfernungen zu den Punkten direkt zu messen.“
Wir nennen dies eine Fähigkeit zur Substitution. In dieser Umschreibung steckt eine gewisse Dreistigkeit: Warum direkt seine Beute machen, wenn man sie umkreisen, aufreizen und aus ihrer strikten Semantik herausfoppen kann?
In den Sozialwissenschaften verwenden Forscher die Triangulation als eine Methodologie: eine Gegenprüfung verschiedener Ansätze, die ein wenig dem ähnelt, was Amerikaner das „Schrotflintenprinzip“ nennen, zumindest wenn besagte Schrotflinten aufeinander gerichtet würden. Solch ein kontraintuitiver Zugang – etwas anderes in den Blick nehmen, um es als ein Prisma auf den gewählten Forschungsgegenstand zu richten, eine andere Richtung einschlagen, die zunächst irrelevant erscheint, anstatt direkt auf sein Ziel zuzusteuern – ist zu einer Art modus operandi für Slavs and Tatars geworden, ganz zu schweigen von den Talyschen, Bulgaren, Karakalpaken und Kurden, um nur einige zu nennen. Wir wenden uns also dem schiitischen Ritual des Muharram nicht unbedingt deshalb zu, um den Islam oder den Nahen und Mittleren Osten als solchen besser zu verstehen, sondern eher um unsere eigenen Auffassungen von Moderne, Geschichte und Zeit besser zu begreifen. Reverse Joy untersucht die komplexe Konstellation des Muharram, der im Verlauf von dreizehn Jahrhunderten eine nahezu kosmische Bedeutung erlangt hat, jenseits regionaler Rivalitäten und möglicherweise sogar jenseits des Glaubens selbst, um Ideen von Identität, Mystizismus, Protest und Widerstand in der Welt als Ganzer zu beeinflussen.
Man kann sagen, während der gregorianische Kalender das Neue Jahr mit lautem Knallen und Krachen begrüßt, entscheidet sich der islamische häufig für Heulen und Wehklagen. Der erste Monat des muslimischen Kalenders, Muharram – wohl der heiligste Monat, noch vor dem Ramadan –, hat eine ganz besondere Bedeutung für die Schiiten. Am zehnten Tag dieses Monats im 7. Jahrhundert unserer Zeit fiel al-Husain ibn ʿAlī, Enkel des Propheten Mohammed, in die Hände der Armee des zweiten Umayyaden-Kalifen Yazid I. und wurde getötet. Diese Tat bildet den Kern des ursprünglichen Schismas zwischen Sunniten und Schiiten und führte im Laufe der Jahrhunderte zu verheerenden politischen und zunehmend geopolitischen Konsequenzen.
Nach einer umstrittenen Nachfolgeregelung weigerten sich Hussein und seine Anhänger, die Legitimität von Kalif Yazid I. anzuerkennen und marschierten nach Kufa, um die Bewohner dieser Stadt, die im Gebiet des heutigen Irak liegt und kurzzeitig Hauptstadt des Kalifats war, zu treffen. Diese hatten ersterem die Treue geschworen und erbaten Führung von der Ahl al-bait, der Familie des Propheten. Die 100.000 Mann starke Armee des Kalifen fing Hussein und seine Handvoll Gefährten und Verwandten in der ausgedörrten Wüste von Kerbela ab, etwa einhundert Kilometer südwestlich von Bagdad gelegen. Nach mehreren Tagen ohne Zugang zu Wasser tötete die von Schimr ibn Dhul Dschawshan angeführte Armee des Kalifen alle Männer, deren Leichname teilweise verstümmelt wurden (Hussein wurde enthauptet) und nahm die Frauen und Kinder gefangen.
Jedes Jahr gedenken Schiiten in aller Welt – vom Libanon bis zum Irak, vom Iran bis Pakistan und bis nach Aceh, der Nordspitze Sumatras – während des Monats Muharram der Leidensgeschichte des archetypischen Sohns Hussein in einem „Orchester des Grams“, wie es Elias Canetti genannt hat. Umzüge, Trommelschläge, Schauspiele, Klagelieder und, vielleicht am wichtigsten, das Beweinen steigern sich zu einer Klimax an Aschura (wörtlich „der Zehnte“ im Arabischen, um den Tag des Monats von Husseins Tod zu bezeichnen). Und trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieser intensiven öffentlichen Zurschaustellung des Trauerns, durchzieht die Rituale ein greifbares Gefühl der Heiterkeit oder sogar der Freude. Der in Ländern wie dem Iran oft eingeschränkte öffentliche Raum wird mit einer Stimmung wie bei einem Straßenfest belebt.
Da andere Himmel andere Geschichten erzählen, erscheint es vielleicht angebracht, einige Begriffe zu klären, die für unsere Leser neu sein mögen:
Muharram: der erste Monat des Jahres im islamischen Kalender; wird für die Zwecke dieses Essays als Sammelbegriff verwendet, um die unterschiedlichen Rituale und Elemente im Gedenken an Hussein zu bezeichnen
Ta’zieh: ein schiitisches Passionsspiel, das im Iran aufgeführt wird und die Ereignisse von Husseins Martyrium in der Schlacht von Kerbela darstellt
Aschura: der zehnte Tag und zugleich der Höhepunkt des Muharram-Monats, denn dies ist der Tag von Husseins Märtyrertod
Hosseinieh: nach Imam Hussein benannter Gebets- oder Versammlungsraum
Dasteh: Prozession, Parade oder Protestzug, wie sie während des Muharram die Straßen füllen
Das Schiitentum ist ein transnationaler Glaube und als solcher sind seine Rituale und Bräuche in aller Welt indigenisiert und synkretisiert worden. Vielleicht mehr als andere muslimische Rituale nah und fern erinnert Muharram an ein anderes heiliges Fest eines gänzlich anderen Glaubens. Gelehrte des Schiitentums, von Seyyed Hossein Nasr bis zu Henri Corbin, haben vielfach auf die unwahrscheinlichen Ähnlichkeiten zwischen Schiitentum und Katholizismus hingewiesen: von der Idee der Transsubstantiation bis zur Vervielfachung der Heiligen und ihrer Verehrung. Wir können dieser Reihe ein weiteres Beispiel hinzufügen, denn in vielerlei Hinsicht ähnelt Muharram dem Karneval, wenn auch als Umkehrung.
Während der heilige Monat der Schiiten auf das Trauern ausgerichtet ist, ist der Karneval ein Freudenfest. Im ersteren tragen Männer und Frauen keine farbige Kleidung und wählen stattdessen unterschiedliche Schwarztöne, während letzterer das genaue Gegenteil zeigt, eine Farbexplosion in Technicolor inklusive eines ganzen Pantonefächers von Hautfarben und Fleischtönen, wie sie kaum, wenn überhaupt jemals, in der muslimischen Welt zu beobachten sind. In Rio de Janeiro schlägt die Trommel den afrobrasilianischen Rhythmus des Samba batucada an, während in den Straßen von Teheran die Schlaginstrumente des Muharram, schwer und hypnotisch, den verstärkten Grundbass für das Sinezani (Schlagen auf die Brust), das Zanjirzani (die Selbstgeißelung mit Ketten) oder in seltenen Fällen das Qamazasni (das Aufschlitzen der Stirn mit einem Schwert) bilden.
Während des Karnevals, ob in New Orleans oder in Salvador de Bahia, schwimmen die Straßen in Schnaps, vielleicht als Rückbesinnung auf die synkretistischen bacchanalischen Ursprünge des Festes. Unterdessen wird einem während Muharram verziehen, wenn man den Gedanken hegt, die Opfergaben seien mit Alkohol aufgemotzt angesichts des ekstatischen Zustands, in den die Trauernden verfallen, und den man selten mit Tee und heißer Milch verbindet. In Rio sind konkurrierende Sambaschulen der Stolz jedes einzelnen Viertels; Teherans Stadtviertel bereiten sich ebenfalls mehrere Monate im Voraus auf ihre konkurrierenden Dastehs oder Prozessionen vor, die ausschließlich von Männern angeführt werden und von Gesängen und Selbstgeißelungen begleitet werden. Als Teil der Rituale des Muharram scharen sich Frauen in Gruppen hinter und um die Männer. Es sei dir vergeben, wenn du denkst, du wärst hier in eine Art Middle East-Side Story geraten. Die kleinsten oder jüngsten Männer führen den Zug an, wie um einen menschlichen Equalizer zu bilden. Dann, wenn die größten von hinten ankommen, haben die Brust- und Trommelschläge, das Schlagen der Ketten und das Stampfen der Füße eine fieberhaft erregte Höhe erreicht. Ein kleiner Umweg oder eine Pause, um ein Grabmal auf dem Weg zu besuchen, dienen als Erinnerung an Kerbela, wo sich das Grabmal von Hussein befindet.
Während in Brasilien riesige Motivwagen im Mittelpunkt stehen, zeigt im Iran ein notdürftiges Bühnenbild die Schlacht von Kerbela mittels einer zusammengewürfelten Auswahl an Paraphernalien und anachronistischen Requisiten und Tableaux Vivants auf offenen Pritschenwagen. Flaggen und aufwendig bestickte Banner mit Anrufungen Husseins und seiner Verwandten (sein Halbbruder Abbas, seine Schwester Zainab) nehmen einen prominenten Platz in den Prozessionen ein, wie auch andere Devotionalien, darunter Teppiche, Spiegel und Seidentücher.
Um die Parallele bis an den Punkt zu treiben, an dem sie zerbricht, ist es vielleicht erwähnenswert, dass Brasilien und der Iran auf ganz ähnliche Weise ein Ereignis übernommen und sich anschließend angeeignet haben, das ursprünglich mit einem anderen Ort verbunden ist. Denn vor dem brasilianischen Karneval gab es den venezianischen und vor den iranischen Muharram-Zeremonien gab es die irakischen.
Die Geschichte des Schiitentums ist eine des andauernden Protests. Das wird überall deutlich, vom minoritären Status der Glaubensrichtung (gegenüber dem Sunnitentum) bis zum traumatischen Ereignis im Herzen des Muharram und dem Schisma, das zur Herausbildung der Glaubensgemeinschaft führte. Oft für unterschiedliche Ziele eingesetzt – seien sie politisch, national, strategisch oder sozial –, ist die archetypische Geschichte des Aufbegehrens gegen Unterdrückung oder Ungerechtigkeit nicht nur ein Protest gegen etwas sondern auch einer für etwas – und das nirgendwo in solch einem Ausmaß wie im Iran, wo sie dabei geholfen hat, die nationale Identität zu konstruieren und zu untermauern.
Die Massenkonversion des Iran zu einem schiitischen Land und die Etablierung der Schia als offizielle Staatsreligion, die im frühen 16. Jahrhundert unter der Herrschaft der Safawiden einsetzte, diente zwei Hauptzwecken: zum einen, eine ausgeprägte, kohärente persische Identität herzustellen angesichts der empfundenen Gefahr der Arabisierung, die die Entstehung des Islam im 7. Jahrhundert begleitete; und zum zweiten, um der Bedrohung durch zwei sunnitische Nachbarn zu begegnen, insbesondere dem osmanischen Reich im Westen und in geringerem Ausmaß dem Aufstieg der usbekischen Macht im Osten mit dem Scheibanidenreich. Drei Jahrhunderte später, in den 1930er Jahren, verbot Schah Reza im Gefolge eines Staatsstreichs und einer frisch gekürten Dynastie solche Muharram-Rituale wie die Dasteh und Ta’zieh (Passionsspiele) aus Sorge, dass diese dazu benutzt werden könnten, um die Bevölkerung zu Demonstrationen zu mobilisieren.
Im Verlauf der 1970er Jahre führte die wachsende Unzufriedenheit mit dem Regime dazu, dass Mohammed Reza während der jährlichen Muharram-Zeremonien unweigerlich die Rolle von Husseins Mörder Yazid zufiel, während das iranische Volk die Unterstützer Husseins spielte. Demonstranten auf politischen Kundgebungen trugen Schilder mit den Worten „Ma ahl-eh Kufa Nistim“, was heißt „Wir sind nicht aus Kufa“ – eine Anspielung auf die Einwohner von Kufa, die heimtückisch ihre anfängliche Unterstützung für Hussein widerriefen.
Die transnationalen Tropen der Schlacht von Kerbela fanden keine Zeit, Staub anzusetzen, bevor sie, weniger als ein Jahrzehnt später, während des ersten Golfkriegs zwischen Iran und Irak wieder hervorgekramt wurden. Alle Bestandteile waren zur Stelle, inklusive eines theokratischen Regimes, das nur allzu gewillt war, den Glauben in den Dienst der Macht zu stellen. Ein grausamer Tyrann war vom Glauben abgekommen – in diesem Fall passte Saddam Hussein, dem säkularen Baathisten, die Rolle wie angegossen – und attackierte eine unschuldige, tief religiöse Bevölkerung, als die die Iraner sich selbst sahen. Glaube und nationale Identität wurden wieder einmal mit betäubender Effizienz miteinander verquickt, als hunderttausende junger iranischer Männer, inspiriert durch das Beispiel von al-Husain ibn ʿAlī, dem Märtyrerprinz, selbst den Tod wählten, indem sie an die iranisch-irakische Front gingen.
Im frühen 21. Jahrhundert war die erste islamische Theokratie seit dem 11. Jahrhundert in eine Sackgasse geraten. Nach drei Jahrzehnten an der Macht, mehreren Säuberungen, einem acht Jahre andauernden Krieg mit dem Irak und schließlich einer Tauwetterperiode in den frühen Nuller Jahren, begann die iranische Revolution ihre eigenen Kinder zu fressen. Die vom Regime geschaffene Ideologie des revolutionären Islam – man hatte das Drehbuch seiner Antithese, der Russischen Revolution von 1917, gelesen – hatte sich selbst in die gesamte Region exportiert und sich in dem von der früheren Sowjetunion zurückgelassenen Vakuum als ein lautes, effektives, wenn auch ungleiches Gegengewicht zum Westen festgesetzt. Nach der umstrittenen iranischen Präsidentschaftswahl von 2009 wandte sich die Grüne Bewegung nicht etwa von der Religion ab, von deren Theokratie sie unterdrückt worden war, sondern sie griff auf die Geschichte von Hussein und Muharram zurück, um den Glauben wiederzubeleben, der in den letzten Dekaden zu einer behäbigen Demonstration offizieller Macht erstarrt war. Die Dasteh und die unterschiedlichen Zeremonien dienten als eine wirkungsvolle Plattform für diejenigen, die das Gefühl hatten, dass die Stimmenauszählung zugunsten des Amtsinhabers Mahmoud Ahmadinejad gefälscht worden war. Von der Regierung gebilligte Gewalt gegen unschuldige Demonstranten verstärkte nur noch weiter die Parallelen in den Köpfen einer Bevölkerung, die mit einer jährlichen Dosis an kosmischem Unrecht und Märtyrertum aufgezogen worden war.
Ayatollah Hussein Ali Montazeri, einst auserkoren, Khomeinei als Höchsten Führer zu beerben, bevor er wegen seiner Kritik an den Massenexekutionen von politischen Gefangenen durch das Regime in den späten 1980ern in Ungnade fiel, war ein lautstarker Gegner des Wahlergebnisses von 2009 und beschuldigte die Regierung, „Ergebnisse zu verkünden, denen niemand, der bei rechten Sinnen ist, Glauben schenken kann, und trotz aller Beweise manipulierter Ergebnisse, und um Demonstrationen der Bevölkerung zu begegnen, vor den Augen der gleichen Nation, die die Last einer Revolution und eines achtjährigen Krieges getragen hat, vor den Augen einheimischer und internationaler Journalisten, die Kinder des Volkes mit außerordentlicher Gewalt zu attackieren.“ Als Montazeri am 19. Dezember 2009 starb, nur wenige Tage vor Aschura, war das für die taumelnden Autoritäten ein Zufall zu viel. Zum ersten Mal seit der Revolution ergriff ein theokratisches schiitisches Regime Maßnahmen, um genau die Muharram-Zeremonien einzuschränken, die am Ursprung seines Glaubens stehen, genau die gleichen Zeremonien, die einst vom Schah verboten worden waren.
Das Herzstück der unterschiedlichen Rituale und Riten, die den Musharram ausmachen, bildet Ta’zieh, ein Passionsspiel, das die Schlacht von Kerbela nachstellt. Da es als das einzige einheimische Drama der muslimischen Welt gilt (vor der Einführung des zeitgenössischen westlichen Theaters im 19. Jahrhundert), spielt Ta’zieh bis heute eine weitaus bedeutsamere Rolle im Alltagsleben der Schiiten als der Vergleich mit christlichen Passionsspielen vermuten lässt. Peter Brook nannte es „die unbewusste Avantgarde des ‚armen Theaters‘“, und das Ritual hatte einen gewaltigen Einfluss auf verschiedene Theaterregisseure des 20. Jahrhunderts, darunter Brook selbst, Jerzy Grotowski und Tadeusz Kantor, die sich einer Sprengung, wenn nicht gar der völligen Beseitigung der traditionellen Trennung von Zuschauern und Schauspielern verschrieben hatten.
Mit dem Ta’zieh hatte diese Generation experimenteller Theaterregisseure der 1960er und frühen 1970er Jahre einen brechtschen Volltreffer gelandet. Oftmals kam ein kreisförmiges Arenatheater zum Einsatz, in dem sich die Zuschauer unter die Schauspieler mischten. Die Schauspieler hielten ihren Text in der Hand, um jeglichen Anschein von Naturalismus zu vermeiden und das Publikum daran zu erinnern, dass sie die Rollen bloß spielten. Obwohl sie ihren Text bestens auswendig konnten, war dieser Verfremdungseffekt nicht einfach avantgardistisch, er war avant-tout notwendig, um wenigstens ein Lippenbekenntnis zum islamischen Verbot der Darstellung abzugeben. Männer spielten die Rollen von Frauen. Die Regisseure erklommen gelegentlich die Bühne, um Anweisungen zu geben.
Das vielleicht faszinierendste Element des Ta’zieh ist jedoch eines, das strenggenommen nichts mit ihm zu tun hat: der Anachronismus. Ohne die geringste Überleitung von den Ereignissen um die Schlacht von Kerbela kommen gelegentlich Schauspieler auf die Bühne und spielen in Guriz genannten abschweifenden Zwischenspielen wahlweise Alexander den Großen, Timur oder Gestalten aus der Gegenwart. Auch werden anachronistische Kostüme, Requisiten und Bühnenbilder verwendet: europäische Reiseschriftsteller des 19. Jahrhunderts, diese puristischen Hüter der Kohärenz, merkten unweigerlich mit einer Mischung aus Entrüstung und Faszination an, dass die Schauspieler, die die Armee des Kalifen darstellten, mit Uniformen aus der Kadscharenzeit oder in Monturen der französischen Armee aus der Zeit Napoleon III. ausstaffiert seien. Wie Peter Chelkowski in seiner bahnbrechenden Studie Ta’ziyeh: Ritual and Drama in Iran herausgearbeitet hat, operiert das Passionsspiel entlang dreier Zeitregister: der tatsächlichen Zeit des anwesenden Publikums (also 2018), der Darstellungszeit der gezeigten Szenen (680) und der Nicht-Zeit des Anachronismus (sei es das 4. Jahrhundert v. Chr. oder 1977). Diese Guriz sind nicht nur ein weiteres Signal der Konstruiertheit des Theaterstücks für das Publikum, sie treiben auch die Konstruktionen der Zeit selbst auf die Spitze und zerteilen sie mit weitreichenden Querschnitten.
Während des heiligen Monats Muharram legen die Leute die Axt an unser traditionelles Zeitverständnis und verdichten die Zeit, um die weit entfernte Vergangenheit für alle möglichen Ziele und Absichten zu vergegenwärtigen. Mittels der Dynamik des Theaters. Mittels der Reflektion der eigenen Person in den Spiegeln, die an dem Holzgerüst des Nakhl hängen, um den sich die Bittsteller scharen, die die zypressenförmige Totenbahre, die Husseins Sarg symbolisiert, tragen. Oder indem man das Porträt eines verstorbenen Familienmitglieds an die Prozessionsbanner neben die Namen der Ahl al-bait, der Familie des Propheten, heftet. Indem ein gegenwärtiges Unrecht mit einem vergangenen verknüpft wird und vice versa, ein gegenwärtiger Tod mit einem historischen, das eigene Bild mit dem von Hussein, kann eine ganzheitliche, verwandelte Wertschätzung der Komplexität einer jeglichen Aufgabe beginnen, Gestalt anzunehmen: eine, die weit entfernt ist von der für das Vergessen anfälligen Spezialisierung, die das vergangene Jahrhundert heimgesucht hat.
Trotz des ganzen Bluts, Gedärms und Gemetzels von Muharram spielen Kinder während der ganzen Zeremonien eine wichtige – wenn auch unerwartete – Rolle. Wie die Erwachsenen im Ta’zieh unterlaufen auch die Kinder die traditionell verstandenen Grenzen zwischen Publikum und Darstellern. Eltern verkleiden ihre Kinder mit einer Kufiya, manchmal nicht größer als ein Taschentuch, die um ihre kleinen Köpfe drapiert wird, für die Rolle von Ali Ashgar, Husseins neugeborenem Kind und der jüngste Märtyrer der Schlacht von Kerbela. Zahlreiche Plakate, Transparente und Wandmalereien zeigen Hussein, wie er den Leichnam seines sechs Monate alten Sohnes empor hält, der durch einen Pfeilschuss ins Genick getötet wurde. Jedes Jahr am Morgen von Aschura bringen Frauen ihre kleinen Kinder in eine Hosseinieh, um den Moment der Trauer angesichts des Verlusts des neugeborenen Babys wieder aufzuführen. Es werden Krippen gebaut, drapiert in grünes Tuch, in die Almosen – in Form von Geld – gegeben werden. Mütter warten in der Schlange, um ihre Kinder für einen Moment in die Krippe zu legen, wo sie in einem Meer aus Rial-Scheinen und umgekehrten Segenssprüchen baden. Entgegen dem Aberglauben, dass man sein Schicksal nicht herausfordern sollte, indem man sich ein tragisches Ereignis vorstellt oder gar zur Aufführung bringt, vertreten diese Bittsteller mit ihrem eigenen Mitgefühl und Beileid die heilige Familie, der vor 1300 Jahren dieses Grundrecht durch die Armee des Kalifen verwehrt wurde.
Kleine Kinder sind vielleicht am besten geeignet, Löcher in die dunklen Totenhemden zu bohren, die die Bürokratie dazu benutzt, den Monat in ein düsteres Licht zu tauchen. Während ihre Eltern Tränen in den Hosseiniehs vergießen – Gebetsräume, die nach Hussein benannt und ihm gewidmet sind – und den Rozeh und Noheh-Khani lauschen – gefühlsbeladenen mündlich wiedergegebenen Geschichten rund um die Schlacht von Kerbela –, nutzen kleine Jungen und Mädchen die Gebetsposen ihrer Eltern als provisorisches Klettergerüst und krabbeln auf und über ihre Schultern, Arme und Beine, ganz vergnügt und unbekümmert von der ernsten Stimmung des Ereignisses. Kinder bringen den latenten Sinn von Fröhlichkeit zum Vorschein, der jeder Form von Trauer als einer notwendigerweise atavistischen Pflicht gegenüber dem Leben innewohnt: sie neigen dazu, jegliche Versammlung im öffentlichen Raum, ganz gleich unter welchem Anlass, als ein freudiges Ereignis anzusehen. Um Ol’ Dirty Bastard, aka Big Baby Jesus zu paraphrasieren, der neben vielen anderen Dingen auch mit der wirkmächtigen Trope der Kinder vertraut war: „Ich weiß nicht, wie ihr alle das seht, aber was die Kinder angeht, ist Muharram für die Kinder. Wie lehren die Kinder.“
Muharram stellt auch die stark polemisierten und häufig missverstandenen Geschlechterrollen im Islam im allgemeinen und im Iran im besonderen auf den Kopf. Vielleicht weil nur wenige von uns Väter haben, die je eine Träne in unserer Gegenwart entweichen lassen, repräsentiert schon der Anblick eines erwachsenen Mannes, der heult, eine Infragestellung der Ordnung. Der Anblick hunderter oder tausender erwachsener Männer, die gemeinsam Schluchzen, ist jedoch eine willkommene Auslöschung dieser Ordnung, zumindest für einen Moment, die eine nahezu anarchische, ekstatische Energie freisetzt und die überzeugendste und ansteckendste der vielen Episoden darstellt, die den heiligen Monat des Muharram ausmachen. Das Schlagen der Brust, die Selbstgeißelung und vor allem das Weinen dienen alle als parabolische Ausdrücke der Solidarität und der Wehklage und des Bedauerns, dass sie nicht zur Stelle sein konnten um an der Seite des Märtyrerprinzen zu kämpfen und zu sterben. In den Hosseiniehs erzählt ein Kantor eine der vielen Geschichten der Schlacht von Kerbela und hält mitten in seiner pathetischen Rede inne, um zu weinen. Plötzlich und ziemlich schroff schert er aus seiner Rolle aus, um das Publikum zu ermahnen, noch etwas mehr zu weinen. Haleh Anvari drückt es vielleicht am besten aus: „Muharram ist die einzige Zeit des Jahres, in der die Rollen verkehrt sind: Männer werden zu Wehklagenden, zu Schauspielern, und die Frauen zu Zuschauern.“ Während die Männer in einen Two-Step zum Rhythmus der Trommeln und Brustschläge verfallen, versammeln sich die Frauen in ihrem Rücken, zur Rechten und zur Linken der Männer, dichtgedrängt, wie ihre Mascara, und folgen ihren Bewegungen, angetrieben von den Intrigen und dem Begehren der vorhergehenden elf Monate.
Seit die Iranische Revolution ein theokratisches Regime eingeführt hat, ist der öffentliche Raum in Teheran in erschreckendem Ausmaß zusammengeschrumpft, und eine der sichtbarsten Narben dieser Entwicklung ist Enthauptung des hauptstädtischen Nachtlebens. Einst abwechselnd glamourös und zwielichtig, wie auf ergreifende Weise in Behrouz Vossoughis nächtlicher Kneipentour quer durch die Stadt in Kandoo (Das Bienenhaus) eingefangen, hat sich die Nacht allzu häufig in den falschen Kitzel des privaten Bereichs zurückgezogen. Krude Schuldzuweisungen könnten mit dem Finger auf den Glauben selbst zeigen. Stattdessen haben sich die Iraner dem Muharram zugewandt, der ursprünglichen lebendigen Leidenschaft des schiitischen Glaubens, um die Nacht zurückzugewinnen. An Straßenecken offerieren junge Knaben den im Stau zum Jahresende feststeckenden Fahrern Tee. Gerüste und schwarze Stoffbahnen für provisorische Hosseiniehs sprießen aus den Bürgersteigen wie urbane Pilze. Aus in China hergestellten Ghettoblastern dröhnen Rozeh-Khanis mit einem basslastigen Beat, der Detroit und selbst die in dessen Umland lebenden vorwiegend sunnitischen Amerikaner arabischer Herkunft stolz machen würde. Junge Männer und Frauen legen ihr bestes Freitags-Outfit an, um in der Öffentlichkeit miteinander in Kontakt zu kommen, bei der vielleicht einzigen erlaubten Flirtgelegenheit des Jahres. Mehr Straßenfest geht nicht in der Islamischen Republik.
Es hat in den letzten Jahren eine überraschende Toleranz für Komplexität in unserem Verständnis und unserer Wahrnehmung von – wenn nicht gar dem Widerstand gegen – soziale und ökonomische Ungleichheit gegeben. Es ist beinahe zur Gewohnheit geworden, zu sagen, dass die Herausforderungen, denen wir uns als Gesellschaft gegenüber sehen, nicht länger isoliert angegangen werden können. Nichtsdestotrotz wird die Rolle von Glauben und Spiritualität bis hin zu organisierter Religion oftmals auf Abstand gehalten und von linken Intellektuellen im Westen wie von Liberalen im Nahen Osten gleichermaßen unter Quarantäne gestellt. Man schaue sich nur die schönfärberische Vereinnahmung solch umstürzlerischer Gestalten wie Gandhi, Martin Luther King oder der katholischen Kirche während der Solidarność in der jüngeren Vergangenheit an. Heutzutage gelten Graswurzelbewegungen und Selbstorganisation von unten als die offensichtliche Kampfansage an die Trägheit der sich verschanzenden Mächte; doch nur wenig wird von einem anderen gerichteten Druck gesprochen – nicht bloß von unten nach oben, sondern von innen nach außen. Bis zu welchem Ausmaß kann eine Revolution der inneren Welt die uns umgebende äußere, materielle Welt beeinflussen? Ist es nicht seltsam, dass wir die Religion für ein oder zwei Jahrhunderte übergangen und anderen überlassen haben und dennoch die Chutzpe haben, die Frechheit besitzen, zu widersprechen, wenn dieser Glauben von anderen gegen uns verwendet wird? Wie können wir, als diejenigen, die Pluralismus, Heterogenität und Toleranz hochhalten, erwarten, in den Augen derjenigen, die ihn praktizieren, eine glaubwürdige Stimme in Sachen des Glaubens zu haben, wenn wir selbst uns nicht mit dem Glauben auseinandersetzen?
Kassandras sagen gerne, dass wir schon einmal an dieser Stelle waren – dass die Finanzkrise und die arabischen Aufstände des frühen 21. Jahrhunderts die Erinnerung an 1848 wachrufen, nein, an 1917, oder noch besser, an 1968. Sie liegen nicht falsch: nur ihr Tonfall lässt die nötige Fröhlichkeit vermissen. Denn die mürrischen Warnungen täuschen über ein grob vereinfachendes, lineares und buchstäbliches Verständnis von Zeit, dem Exoterischen und dem Esoterischen, ganz zu schweigen von Freude und Trauer selbst hinweg. Wiederholung sollte nicht vermieden, sondern vielmehr gefeiert werden. Wie die Rituale des Muharram klar machen, waren wir in der Tat schon einmal an dieser Stelle, und wir planen wieder hier zu sein: jeden Tag jeder Woche, jede Woche jeden Monats und jeden Monat jeden Jahres.
* Reverse Joy ist zu gleichen Teilen Recherche, öffentliche Intervention, Skulptur und Lecture Performance und wurde erstmals 2012 in der Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfZK) in Leipzig als dritter Teil der mehrteiligen und auf verschiedene Orte verteilten Gruppenausstellung Scenarios about Europe gezeigt. Dieser Text basiert auf der gleichnamigen Lecture Performance, die im New Museum in New York, im Haus der Kulturen der Welt in Berli und in der Secession in Wien präsentiert worden ist.