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Katrin Göggel: 1970
1970
(p. 181 – 192)

Katrin Göggel

1970
Yvonne Rainer. »Continuous Project – Altered Daily«

PDF, 12 pages

Yvonne Rainer zeigte sich 1969/70 interessiert an der Integration von Unvorhergesehenem in ihre Choreographien. Ihr Stück Continuous Project – Altered Daily (1970) war ausschlaggebend für die Gründung eines Improvisations-Kollektivs. Rainer selbst benutzt den Begriff ›Improvisation‹ jedoch nicht, um ihre Arbeitsweise zu beschreiben. Das Kollektiv verließ sie nach zwei Jahren und wandte sich dem Filmschaffen zu. Der vorliegende Beitrag beschreibt diesen Medienwechsel vor dem Hintergrund der Möglichkeiten und Aporien der Live-Improvisation. Er diskutiert das Verhältnis von Prozess und Produkt sowie Konzeptionen von Autorschaft und künstlerischer Innovation anhand der Choreographie Continuous Project – Altered Daily (1970) sowie des Films Lives of Performers (1972).

1970
Yvonne Rainer
Continuous Project – Altered Daily

Konsultiert man die Autobiographie der Tänzerin, Choreographin, Autorin und Filmemacherin Yvonne Rainer (→ Rainer 2006) auf der Suche nach Ausführungen zum Thema Improvisation, so wird man enttäuscht. Zwar gibt es hier wie auch in anderen Selbstzeugnissen Hinweise darauf, dass Improvisationstechniken Teil ihrer eigenen Tanzausbildung, ihrer Proben sowie ihres Unterrichts waren (→ Rainer 2006, 167 und 413; → Blumenthal 1984, 51–54; → McDonagh 1981, 95). Aber in der Beschreibung ihres Interesses an der Integration von Unvorhergesehenem in ihren Choreographien um 1969/70 scheint Rainer die Bezeichnung ›Improvisation‹ geradezu zu meiden. Sie spricht von »the possibility of producing spontaneous behavior« oder »ad hoc interactions« (Rainer 2006, 318). Dies ist umso erstaunlicher, als Rainers Stück Continuous Project – Altered Daily die Initialzündung für die Konstitution des Kollektivs »The Grand Union« war, das 1970–76 mit Improvisationsperformances auftrat. Rainer selbst beteiligte sich nur bis 1972 und mit zunehmender Unzufriedenheit an diesen kollektiven Live-Improvisationen (338), während sie zur gleichen Zeit an ihrem ersten längeren Film, Lives of Performers (1972), arbeitete. In den folgenden dreißig Jahren realisierte Rainer überwiegend Filme (→ Yvonne Rainer 2012).

Dieser Übergang wird in der Sekundärliteratur – der Selbstnarration der Künstlerin folgend – als eine Krise beschrieben, in der die Werkprinzipien des Minimal von narrativen Fragmenten, diskontinuierlichen Handlungsstrategien und der Adressierung der emotionalen und der politischen Dimension persönlicher Beziehungen abgelöst werden. Mit Bezug auf theoretische Positionen, die Rainer kannte und mit denen ihr Schaffen oftmals assoziiert wird, kann man dies auch als einen Paradigmenwechsel von einer Orientierung an Phänomenologie und Strukturalismus hin zum Poststrukturalismus sowie zur damals zeitgenössischen psychoanalytischen und feministischen Theorie bezeichnen (→ Walley 2001, o.S., → Buchmann 2007, 210–215, → Phelan 1999, 4–12). Als Initialmoment hierfür wird von Rainer und ihren Interpretatorinnen eine Indienreise und die Begegnung mit Kathakali, einer expressiven Form des indischen Tanzes, angeführt. Die Frage nach dem Stellenwert, den Möglichkeiten und Aporien der Live-Improvisation im Hinblick auf Rainers künstlerische Neuorientierung in diesen Jahren wird jedoch kaum diskutiert (in Ansätzen bei Walley 2001). Hier nun soll erprobt werden, wie dieser Paradigmen- und Medienwechsel vor dem Hintergrund der Fragen und Aspekte gelesen werden kann, die mit dem Begriff ›Improvisation‹ konstitutiv verbunden sind: das Verhältnis von Prozess und Produkt sowie Konzeptionen von Autorschaft und künstlerischer Innovation.


Continuous Project – Altered Daily wird zumeist auf das Jahr 1970 datiert, in dem es im Whitney Museum of American Art, New York, an drei aufeinanderfolgenden Abenden aufgeführt wurde (Rainer 1970). Dem gingen mehrere Workshops mit Studierenden und Aufführungen von »Yvonne Rainer and Group« (Becky Arnold, Barbara Dilley, Douglas Dunn, David Gordon, Steve Paxton) im Jahr 1969 voraus. Nach Rainer waren diese der Beginn des Projekts; sie werden retrospektiv manchmal mit demselben Titel identifiziert (→ Rainer 2006, 317–318; → Yvonne Rainer 2012, 150–157; → Michelson 1974a, 60–61). Dieser ist einer Arbeit des Bildhauers Robert Morris, dem damaligen Partner von Rainer, entlehnt. Dabei handelt es sich um ein »Process Piece«, das Morris 1969 in einer von der Castelli Gallery, New York, als Ausstellungsraum betriebenen Lagerhalle in Harlem gezeigt hatte. Morris’ Continuous Project Altered Daily bestand aus einer sich über drei Wochen hinweg beständig wandelnden Materialassemblage als Rauminstallation, die vom Künstler täglich weiterentwickelt und fotografisch dokumentiert wurde (→ Robert Morris 1971, 116; → Robert Morris 1970, 43–45). Die konzeptuelle Parallele zwischen der prozesshaften Installation und dem Tanzprojekt bestand darin, dass beide einen nur teilweise vorbestimmten Werkprozess in seiner Entwicklung aufführten.

Rainer schwebte vor, dass sich ihr Stück mit jeder Aufführung verändern würde: »an ongoing process with six performers that would encompass a gamut of activities performed along a continuum of imperfection and polish and that would drastically change its shape with each performance« (Rainer 2006, 318). Ihr Stück bestand aus Einheiten von Bewegungsmaterial, die untereinander austauschbar waren. Manche davon waren sehr stark ausgearbeitet und benötigten die gesamte Gruppe von sechs Performern, andere wiederum konnten spontan von einzelnen oder von einer vorbestimmten oder variablen Anzahl von Performern ausgeführt werden. Die Reihenfolge der Einheiten war von der Choreographin nicht festgelegt, sie wurde von den Beteiligten während der Performance bestimmt (→ Rainer 2006, 319). Dies bedeutet eine Verschiebung gegenüber dem Modell von Improvisation als Kompositionsverfahren, wie es in der Nachfolge von John Cage (→ Beitrag zum Jahr 1975 in diesem Band) und Merce Cunningham von vielen Choreographen und in vorausgehenden Stücken auch von Rainer angewandt wurde. Dabei handelte es sich um die Bestimmung der Abläufe mittels aleatorischer Verfahren, z.B. durch Einsatz des chinesischen »I Ging« oder mittels Spielregeln (→ Terrain 1963 in Yvonne Rainer 2012, 92–93; → McDonagh 1981, 98–99). Ein dramaturgischer Aufbau, der eine Narration oder einen Handlungsablauf implizieren würde, wurde so zugunsten einer nicht-intentionalen Kombination von Fragmenten und Variationen verabschiedet (→ Brandstetter 2010, 190–191). Auch eine solche Choreographie verändert sich mit jeder Aufführung, »da die Parameter und ihre Kombinatorik – Raumposition der Tänzer, Richtung, Körper-Konfiguration, Zeitdauer – jedes Mal neu ausgewürfelt werden« (191). Diese Verfahren der Neuverknüpfung von bestehendem Bewegungsmaterial beinhalten jedoch gemeinhin keine spontanen Entscheidungen einzelner Beteiligter während der Performance. Rainer indes verzichtete bei Continuous Project – Altered Daily auf externe, »neutrale« Instrumente zur Strukturierung der Elemente und gestand stattdessen jedem und jeder der Beteiligten zu, an der sich jeweils im Verlauf der Aufführung formierenden Komposition mitzuwirken. Damit ließ sie Unbestimmtheit und Zufallsoperationen hinter sich und erweiterte das Wechselverhältnis von Regulierungen und Deregulierungen, das strukturierte Improvisationen kennzeichnet, um das Setzen von gegebenenfalls konkurrierenden Impulsen und Intentionen (Rainer 2006, 329–330). Diese Ermächtigung der Performer zieht die Notwendigkeit nach sich, dass der Ablauf auf offener Bühne verhandelt wird.

Das in Continuous Project – Altered Daily verwendete Bewegungsmaterial bestand einerseits aus ausgefeilt choreographierten Teilen und andererseits aus Material, das auf der Bühne eingeübt oder markiert, d.h. nur skizzenartig ausgeführt wurde. Damit wollte Rainer die Unterscheidung zwischen den Probenprozessen, die prinzipiell dialogisch sind, und der Aufführungssituation durchlässig werden lassen (→ Rainer 1970; → McDonagh 1981, 100). Durch den Einsatz von Objekten und »Body Adjuncts« (z.B. gefiederte Flügel, ein Löwenschwanz, ein halber Globus, ein »Buckel«, → Rainer 2006, 319), hergestellt von Deborah Hollingworth, und durch die Einführung von Bewegungsmaterial ohne vorhergehende Absprachen versuchte Rainer spontane Reaktionen und unvorhergesehene Interaktionen zu provozieren. Dies war die direkte Folge einer Arbeitsweise, die sie 1969 in einem Workshop am Connecticut College getestet hatte, wo sie mit insgesamt sechzig Beteiligten in Teilgruppen probte, die sich erst bei der Aufführung begegneten: »neither segment of the group knew what to expect from the other. What resulted from this ploy came under the category ›surprises‹.« (Rainer 2006, 322) In einer Workshop-Notiz aus demselben Jahr führt Rainer unter der Kategorie »situations that produce spontaneous behavior« Spiele, Überraschungen, starke Belastung und nicht geübte Performer an (→ Yvonne Rainer 2012, 153). Damit benennt sie unterschiedliche Techniken und Elemente, mittels deren ein routinierter Ablauf gefährdet wird, indem die Performer herausgefordert bis überfordert werden. Das spontane Verhalten steht somit an der Schwelle zum Misslingen. Oder, so könnte man es auch wenden: Die Imperfektion wird – allerdings immer in Relation und als Kontrast zu voll durchgearbeitetem Material – Teil des Kalküls des künstlerischen Konzepts.

Dass es dabei auch um ein Modell und Ideal von Authentizität in Bühnensituationen ging, wird deutlich an einer Schlüsselszene, die 1969 während einer Aufführung in Kansas City stattfand und die Rainer in ihrer Autobiographie schildert: Beim Anblick von Barbara Dilley, die sich den prothetischen »Buckel« unter das T-Shirt geschoben hatte, musste Rainer unwillkürlich lachen, was ihr Gegenüber ansteckte. Laut und herzhaft lachend fuhren beide in ihren Handlungen fort. Rainer beschreibt diese Situation als eine völlig neue, zugleich entspannende und euphorisierende Bühnenerfahrung (→ Rainer 2006, 319; → Blumenthal 1984, 66). In einem Brief an Dilley erläutert sie in der Folge derselben Aufführung ihre Wahrnehmung der Qualitäten der Interaktionen zwischen dieser und Steve Paxton während der Performance als »reality of encounter, responsible interaction, truthful response.« Sie fährt fort:

»To put it in a more personal way: I got a glimpse of human behavior that my dreams for a better life are based on – real, complex, constantly in flux, rich, concrete, funny, focused, immediate, specific, intense, serious at times to the point of religiosity, light, diaphanous, silly, and many leveled at any particular moment« (Rainer 2006, 325–326).

In dieser Passage deutet sich bereits an, was symptomatisch werden sollte für die weitere Entwicklung der Gruppe zum Kollektiv, nämlich, dass das Ideal authentischer und nicht vorstrukturierter Begegnung, wie es Improvisationsmodelle zu versprechen scheinen, eng verwoben ist mit Vorstellungen von einer sprühenden Lebendigkeit jenseits von gesellschaftlichen oder künstlerischen Konventionen und Hierarchien.

Dieses Ideal, das Rainer im Austausch mit der Freundin so freimütig und fast naiv offenbart, relativierte sie, zumindest in den Performances im Whitney Museum of American Art, durch die Vorgabe von drei verschiedenen Aufführungsmodi, die zu variieren seien und die sie im Programmheft dem Publikum als »Levels of Performance Reality« offenlegte (→ Rainer 1970; → Michelson 1974a, 61). Neben der Präsentation von eigenem Material in einem persönlichen Stil (»Primary«) benannte sie dort die Möglichkeiten, sich fremdes Material entweder in einem möglichst getreuen Stil (»Secondary«) oder in einem explizit nicht getreuen, bis hin zu unangemessenen Stil (»Tertiary«) anzueignen. Des Weiteren gab sie eine lange Liste mit möglichen Rollen und Befindlichkeiten, an denen sich die Performer orientieren können, zur Auswahl. Annette Michelson betont in ihrer Besprechung von Continuous Project – Altered Daily, dass weite Teile des Stückes parodistisch waren und der tertiäre Aufführungsmodus überwog (→ Michelson 1974a, 62). Rainer selbst führt retrospektiv aus, dass es sie insbesondere interessiert habe, Situationen auf die Bühne zu bringen, die nicht eindeutig einer Realitätsebene zugeordnet werden können, die zugleich als real und fiktiv wahrgenommen werden und bei denen das Publikum im Unklaren darüber bleibt, ob der Performer etwas rezitiert oder etwas sagt (→ Rainer 2006, 331).

Diese Variationen des Umgangs mit Bewegungsmaterial und auch mit Sprache auf der Bühne unterscheiden sich signifikant von Rainers vorausgehender Praxis. Zwar verwendet sie weiterhin Elemente, die sie seit den frühen 1960er Jahren in Auseinandersetzung mit alltäglichen oder gefundenen Bewegungen und in konzeptueller Analogie zur Minimal Art in der bildenden Kunst entwickelt hatte. Entscheidend war hierbei jedoch die Forderung nach einer neutralen Vorführung – Rainers Ideal war bisher ein »neutral ›doer‹« – gewesen (Rainer 1966, 33). Dies beinhaltete das Verbot von tänzerischer Virtuosität, Paraphrasierungen, dramatischen Entwicklungen, Höhepunkten und Auszeichnungen. Ihre Stücke der 1960er Jahre bestanden aus diskreten Einheiten, die sich in Rhythmus, Dynamik und Tonus nicht unterschieden und die parataktisch aneinandergereiht wurden; Performer und Requisiten waren gleichwertige und dem Ideal nach untereinander austauschbare Elemente (→ ebd.). Um 1969 nun lässt Rainer die Strenge dieses Reinheitsgebots hinter sich, indem sie den Umgang mit Requisiten und die Bandbreite der Aufführungsmodi erweitert, wodurch sowohl ein neues Authentizitätsparadigma als auch Tendenzen der Fiktionalisierung forciert werden. Die Möglichkeit eines Illusionismus bleibt allerdings weiterhin marginal. Die Performer sind immer noch weit davon entfernt, zu Charakteren zu werden; ihre Persönlichkeiten und ihre intersubjektiven Beziehungen indes werden Teil der Aufführung (→ Rainer 2006, 318). Die Reaktionen auf Unvorhergesehenes können (Bewegungs-)Erfindungen beinhalten. Das Finden von neuem Material ist aber – im Unterschied zur Praxis der Improvisation im Ausdruckstanz oder in der Kontaktimprovisation (→ Brandstetter 2010, 187–189) – nicht Ziel der Strategie, sondern ein allfälliges Nebenprodukt.

Yvonne Rainer hatte in den 1960er Jahren die Angewohnheit, in den Programmheften zu ihren Stücken begleitende Statements zu veröffentlichen, die nicht selten konzeptuelle Prämissen der Partitur offenlegen. Inwiefern diese als Teil des Stücks betrachtet werden sollten, illustriert die Beschreibung der Funktion der im Programm abgedruckten Inventarlisten von Bewegungsmodi und Realitätsebenen von Annette Michelson:

»The elaboration of the program, the way in which it seeks to make explicit the concerns and processes, the contingencies which shape the performance, strongly inflects one’s experience and recollection of the work, orders it, and impels one to parse the work.« (Michelson 1974a, 61)

Die Stichworte würden, so Michelson weiter, wie Zwischentitel funktionieren, die von den Zuschauerinnen und Zuschauern individuell bestimmten Fragmenten und Performern zugewiesen werden können. Dies steht in Korrespondenz dazu, dass sich das Publikum frei zwischen drei Orten der Aufführung bewegen konnte, die über das bisher Beschriebene hinaus das Vorlesen von Texten, die Projektion von Filmen und die Einspielung von Musik und Klängen beinhaltete. In der Vorgabe dieser Inventare und Kategorien als Rezeptions- und Analysehilfen etablierte Rainer meiner Meinung nach aber auch eine Instanz von Autorschaft, was man als eine Strategie interpretieren kann, den Kontrollverlust über das eigene Stück bzw. die Gefahr des Eindrucks von Beliebigkeit in der Wahrnehmung des Publikums in Grenzen zu halten.

Der Performance im Whitney Museum of American Art geht im November 1969 ein Briefwechsel zwischen Rainer und der Gruppe voraus. Er zeugt eindrücklich von Rainers Ambivalenz im Hinblick darauf, ihre auktoriale Rolle aufzugeben:

»… I am ready to accept total freedom of ›response‹. At this moment I have trepidations about allowing people to ›alter‹ my material or introduce their own, BUT (concurrent with my trepidations) I give permission to you all to do either of these at your own risk: i.e., you will risk incurring the veto power of me or other members of the group in performance (I do not want to know about such intentions prior to performance). In short, I reserve the right – and I confer upon all of you the same right – to be true to my/your responses in performance – be they enthusiastic or negative – bearing in mind the natural precedence and priority of my material.« (Yvonne Rainer 2012, 157)

Auch wenn Rainer den Tänzern später gestattete, eigenes Material einzubringen, suchte sie im Grunde nach einer Möglichkeit, wie die spontanen Interaktionen Teil eines konzentrierten Ganzen sein könnten, das Rauheit und Zerstreuungen beinhaltet, aber nicht komplett zerfleddert (→ Rainer 2006, 328–329; → Blumenthal 1984, 67; → Ramsay 1991, 38). Diese Balance zwischen Kontrolle und Offenheit unter der Prämisse ihrer Vorherrschaft als Autorin als neue Arbeitsweise zu etablieren, gelang ihr als Choreographin nicht. Die Ermächtigung der Performer führte – wie Rainer meint zwangsläufig, doch von ihr selbst nicht vorhergesehen (→ Rainer 2006, 322) – zur basisdemokratischen Aufführungspraxis als Kollektiv. Der Konflikt, der diesen Schwellenmoment kennzeichnet, lässt sich noch etwas präziser fassen, vergleicht man Rainers Stück für sechs Performer mit Robert Morris’ gleichnamigem »Process Piece«, das sich auch als Solo-Langzeitperformance beschreiben lässt. Die Variabilität war in Morris’ sich verändernder Rauminstallation limitiert durch die Materialien, die er selbst ausgewählt und vor Ort bereitgestellt hatte. Die Balance zwischen Kontrolle und Offenheit, einheitsbildendem künstlerischen Konzept und Improvisation wurde nicht durch mehrere Beteiligte erschwert; er allein war der geniale Virtuose, unter dessen Expertise die Arbeit gelingen sollte.

Die Infragestellung der Hierarchie innerhalb der Gruppe und ihre weitere Entwicklung zum Improvisations-Kollektiv kann als das wahrhaft Unvorhergesehene beschrieben werden, das jenseits der Erwartungen und der Intention der Erfinderin Yvonne Rainer lag und ihr gleichsam zustieß:

»I no longer formally contributed anything new to the performances but supported and participated in a process of ›erosion‹ and reconstruction as the group slowly abandoned the definitive Continuous Project and substituted their own materials. […] Within a short time […] the group became wholly autonomous and the work almost totally improvisational« (zitiert nach Ramsay 1991, 44).

Zu öffentlichen Aufführungen trafen sich die durch langjährige Zusammenarbeit exzellent aufeinander eingespielten Mitglieder von »The Grand Union« ohne vorherige Absprachen über den Verlauf des Abends, ohne gemeinsame Proben oder Aufwärmen. »The only rule was that every moment be improvised, that nothing could be repeated without modification.« (Ramsay 1991, 1) Jeder und jede brachte Requisiten und Kostüme ihrer/seiner Wahl mit, legte Schallplatten auf, sprach Texte, initiierte Bewegungssequenzen, Spiele oder theatrale Situationen. Nicht einmal die Dauer des Abends war vorausbestimmt (→ 113–118). Die Anforderungen dieses Im-Moment-Agierens und -Reagierens waren enorm, Trisha Brown beschreibt sie folgendermaßen: »If you are improvising […] you are using your wits, thinking, everything is working at once to find the best solution to a given problem under pressure of a viewing audience.« (zitiert nach Livet 1978, 48) In ihrer Autobiographie spricht Rainer davon, dass sie den Druck dieser Aufführungspraxis nur ertragen konnte, wenn sie Marihuana geraucht hatte (→ Rainer 2006, 338; → Blumenthal 1984, 67; → Ramsay 1991, 51 und 81). Das Risiko zu scheitern, war groß; hierzu nochmals Brown: »Failure is inherent to our method. The audience realizes this. That’s why they usually bring a picnic lunch.« (zitiert nach Ramsay 1991, 129)


In Rainers Selbstnarration erscheint die Partizipation am Kollektiv als eine Sackgasse, sie verließ die Gruppe bereits im Frühjahr 1972. 1976 begründete sie dies in einem Interview wie folgt: »My imagination and creative needs were not being satisfied by the way this group worked, and there seemed to be no way I could get these needs fulfilled through the particular structure of this group.« (Camera Obscura Collective 1976, 145) In der Narration der Geschichte des improvisierten Tanztheaters hingegen bezeichnet »The Grand Union« eine Innovation und einen Anfang (→ Ramsay 1991, 1 und 137–145.). Das berühmteste Beispiel hierfür ist Steve Paxton, der in diesem Verbund ab 1972 die Möglichkeiten der physischen Interaktion zwischen gleichgestellten Tanzenden erprobte (→ Lampert 2010, 209–212; → Ramsay 1991, 50; → Rainer 2006, 387). Diese als Contact Improvisation bezeichnete Bewegungstechnik basiert auf verschiedenen Qualitäten von Berührungen, unter Ausnutzung der Schwerkraft: »Berührung im Schwung (Impuls), Fallen, Rollen und Kollidieren« (Lampert 2010, 210). Sie setzt auf eine Logik von nicht-mimetischen Bewegungen, die sich aus dem Körperkontakt und nicht in erster Linie im Hinblick auf eine visuell wahrnehmbare Erscheinung ergeben (→ Paxton, zitiert nach Lampert 2010, 211). Die Kombination aus einer guten Bewegungstechnik und Improvisation soll einen breiten Bewegungshorizont ermöglichen und wird bis heute gelehrt und praktiziert.

Yvonne Rainer realisierte unter Mitwirkung von Mitgliedern von »The Grand Union« bis 1973 noch einige Choreographien, darunter Grand Union Dreams (1971), in der sie erstmals fiktive Charaktere verwendete (→ Michelson 1974b, 30; → Rainer 2006, 387), und Performance (1972). Von den Proben und von den Aufführungen beider Stücke verwendete sie Film- und Fotoaufnahmen für ihren ersten Sechzehnmillimeterfilm. Lives of Performers (1972, s/w, ca. 135 Min.) wurde von Rainer in Zusammenarbeit mit der Filmerin Babette Mangolte realisiert und entwickelt in einer heterogenen Abfolge von dokumentarischem Material und inszenierten Tableaus das Drama einer Dreiecksbeziehung. Die Tonspur besteht aus separat aufgenommenem, ebenso disparatem Material. In manchen Teilen kommentieren oder analysieren die Stimmen der Darsteller und der Regisseurin, offenbar ein Skript ablesend, die Fotos und Filmszenen. In anderen Partien laufen Ton und Bild asynchron. Als eine weitere Ebene setzt Rainer, oftmals als Übergänge, Texttafeln ein, wie man sie aus Stummfilmen kennt. Diese fügen noch weitere Kommentare hinzu, die manchmal den Protagonisten in den Mund gelegt werden können (→ Rainer 2006, 426). Der Anfang des Filmes zeigt Tanzproben, die Tonspur gibt ebenfalls eine (andere?) Probenaufnahme wieder. Wir hören Rainer, die Anweisungen gibt, Bewegungen korrigiert, sich dabei verspricht und einen Witz darüber macht, über den alle lachen. Darauf folgt ein Zwischentitel: »At once our tension vanished.«

Der Wechsel zum Film ermöglichte Rainer nicht nur ein Ausformulieren ihres Interesses an Emotionalität, Erzählung und Psychologisierung, sondern auch eine neue Autorenposition. Im Vorspann des Filmes erfährt man, dass Rainer für Drehbuch, Choreographie und Regie verantwortlich zeichnet. Darüber hinaus ist das Dreiecksdrama aus ihren persönlichen Erfahrungen motiviert, es handelt sich um eine Fiktionalisierung von autobiographischem Material. Die Tonspur vollzieht in weiten Teilen eine von ihr geschriebene Analyse und eine Kommentierung der Bilder. Diese implizieren in ihrer zum Teil collageartigen, zum Teil narrativen Verknüpfung noch ein gewisses Maß an Austauschbarkeit, tragen in ihrer Anordnung jedoch deutlich den Stempel von Rainers dezidiertem editing. Mit der Postproduktion, die Teil jeder Filmproduktion ist, gewinnt Rainer eine neue Möglichkeit, disparates Material zu einer Einheit zu verknüpfen und zugleich die Logik der Chronologie von Werkprozess und Produkt in eine potentielle Simultanität zu überführen (→ Engelbach 2012, 208).

Sichtet man das Material, das sie verwendete, so zeigt sich eine Kontinuität zu den Inventarlisten von Continuous Project – Altered Daily: Der Film beinhaltet ausgefeilte Choreographien sowie Probesituationen, Üben, Markieren, Spiele und spontane Reaktionen auf Fehler oder Überraschungen. Darunter auch – als wollte Rainer zur Urszene ihres Ideals des »spontaneous behavior« zurückkehren – immer wieder Lachen; manchmal im Bild zu sehen, manchmal in der Tonspur zu hören. Das Material ist so gewählt, dass es an vielen Stellen Unsicherheit darüber provoziert, welcher Realitätsebene das Vorgeführte oder textuell Thematisierte angehört. Als Markierungen der höchstmöglichen Authentizität fungieren ein Ball spielendes Kind und eine Katze, die in mehreren Szenen anwesend ist. Als höchstmöglich ausgefeilte Choreographie kann man die Aufzeichnung der Aufführung von »Valda’s Solo« im Whitney Museum of American Art betrachten. Die dialogischen Probesituationen im Tanzstudio werden von Tableaux Vivants komplementiert, die auf Produktionsfotos des expressionistischen Stummfilms Die Büchse der Pandora von Georg Wilhelm Pabst (1929) basieren. Es scheint, als habe Rainer mit dem Film das richtige Medium gefunden, das ihr erlaubte, Unvorhergesehenes als ein Element unter anderen für den Werkprozess zu nutzen und zugleich die Kontrolle über das Produkt zu behalten.


Literatur

— Blumenthal, Lyn: »Profile: Interview by Lyn Blumenthal« (1984), in: Yvonne Rainer: A Woman Who … Essays, Interviews, Scripts, Baltimore, London 1999, S. 47–84.

— Brandstetter, Gabriele: »Selbst-Überraschung: Improvisationen im Tanz«, in: Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter und Annemarie Matzke (Hg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren: Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld 2010, S. 185–199.

— Buchmann, Sabeth: Denken gegen das Denken: Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Hélio Oiticica, Berlin 2007.

— Camera Obscura Collective: »Interview with Yvonne Rainer« (1976), in: Yvonne Rainer: A Woman Who … Essays, Interviews, Scripts, Baltimore, London 1999, S. 141–164.

— Engelbach, Barbara: »Lehrjahre des Gefühls: Vom Tanz zum Film«, in: Yilmaz Dziewior und Barbara Engelbach (Hg.): Yvonne Rainer: Raum Körper Sprache, Kunsthaus Bregenz und Museum Ludwig Köln 2012, S. 205–217 (Kat. Ausst.).

— Lampert, Friederike: »Improvisierte Choreographie – Rezept und Beispiel«, in: Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter und Annemarie Matzke (Hg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren: Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld 2010, S. 201–215.

— Livet, Anne: »Interview mit Trisha Brown«, in: dies. (Hg.): Contemporary Dance, New York 1978, S. 44–54.

— McDonagh, Don: The Rise and Fall and Rise of Modern Dance, London 1981.

— Michelson, Annette: »Yvonne Rainer, Part One: The Dancer and the Dance«, in: Artforum International, Jan. 1974[a], S. 57–63.

— Michelson, Annette: »Yvonne Rainer, Part Two: ›Lives of Performers‹«, in: Artforum International, Feb. 1974[b], S. 30–35.

— Phelan, Peggy: »Yvonne Rainer: From Dance to Film«, in: Yvonne Rainer: A Woman Who … Essays, Interviews, Scripts, Baltimore, London 1999, S. 3–17.

— Rainer, Yvonne: »A Quasi Survey of Some ›Minimalist‹ Tendencies in the Quantitatively Minimal Dance Activity Midst the Plethora, or an Analysis of Trio A« (1966), in: dies.: A Woman Who … Essays, Interviews, Scripts, Baltimore, London 1999, S. 30–37; in deutscher Übersetzung in: Minimal Art: Eine kritische Retrospektive, hg. von Gregor Stemmrich, Dresden 1998, S. 121–132.

— Rainer, Yvonne: »Program: Whitney Museum of American Art, March 31, April 1, April 2, 1970: Continuous Project – Altered Daily by Yvonne Rainer«, in: Margaret Hupp Ramsay: The Grand Union (19701976): An Improvisational Performance Group, New York, San Francisco, Bern 1991, S. 149–152.

— Rainer, Yvonne: feelings are facts: a life, Cambridge Mass., London 2006.

— Ramsay, Margaret Hupp: The Grand Union (19701976): An Improvisational Performance Group, New York, San Francisco, Bern 1991.

Robert Morris, hg. von Marcia Tucker, Whitney Museum of American Art, New York 1970 (Kat. Ausst.).

Robert Morris, hg. von Michael Compton und David Sylvester, The Tate Gallery, London 1971 (Kat. Ausst.).

— Walley, Jonathan: »From Objecthood to Subject Matter: Yvonne Rainer’s Transition from Dance to Film«, in: senses of cinema, Issue 18: Film and the Other Arts, Dez. 2001, http://sensesofcinema.com/2001/18/rainer-2/ (aufgerufen: 10.5.2014).

Yvonne Rainer: Raum Körper Sprache, hg. von Yilmaz Dziewior und Barbara Engelbach, Kunsthaus Bregenz und Museum Ludwig Köln 2012 (Kat. Ausst.).


Film

— Yvonne Rainer: Lives of Performers, 1972: Kamera: Babette Mangolte, s/w, Ton, ca. 135 Min., Distribution: Zeitgeist Films, New York.

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Sandro Zanetti (ed.): Improvisation und Invention

Wenn eine Kultur etwas als Erfindung akzeptiert, dann hat dieses Etwas bereits den Status einer Tatsache erhalten, die vorhanden ist und auf ihren Nutzen oder auf ihre Funktion hin befragt werden kann. Was aber geschieht davor? Wie gewinnt das Erfundene Wirklichkeit? Wie in der Kunst, wie im Theater, wie in der Literatur und Musik, wie in der Wissenschaft? Und mit welchen Folgen? Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich alle mit einem Moment oder einem bestimmten Modell der Invention. Ausgehend von den jeweils involvierten Medien wird der Versuch unternommen, diese Momente und Modelle zu rekonstruieren. Um etwas über die entsprechenden Inventionen in Erfahrung bringen zu können, werden diese als Ergebnisse oder Effekte von Improvisationsprozessen begriffen: Improvisationen in dem Sinne, dass von einem grundsätzlich offenen Zukunftsspielraum ausgegangen wird, gleichzeitig aber auch davon, dass es ein Umgebungs- und Verfahrenswissen gibt, das im Einzelfall beschrieben werden kann.

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